Sokrates
Sokrates
oder Die Sokratische Wende
Während die Vorsokratiker (Thales, Heraklit, Pythagoras, Parmenides, Demokrit, Protagoras...; ca.600-400 v. Chr.) sich v. a. um die Erkenntnis der Welt (Ursprung, Götter, Atome...) bemüh-ten und eine mehr oder weniger naive Kosmologie (Kosmogonie, Theologie, Theogonie) ent-warfen, bemüht sich Sokrates (ca. 470 -399 v. Chr.) um eine reflektierte Anthropologie. Hierbei kommt der Kosmos nur in dem Maße in den Blick, in dem er wichtig ist für die menschliche Natur.
Sokrates sucht nach festen Beweisen und gründet sie auf die Induktion. Danach führt er allge-meine Definitionen ein. So ging er z.B. vom einfachen Handwerker aus: Wenn man sein Ziel kennt, kann man auch die Wege erkennen, die dorthin führen. Gibt es ein Ziel für einen ein-zelnen, so gibt es auch ein Ziel für die menschliche Rasse. Um die entsprechenden Wege zu gehen, benötigt der Mensch die areté: Die Tüchtigkeit, welche bei der Bewältigung einer be-stimmten Aufgabe von Nöten ist, und der in ihrer Notwendigkeit ein objektiver Charakter zukommt (= Sich-auf-etwas-Verstehen). D. h. man kann konkrete Kriterien aufstellen, die nicht beliebig sind. Hier kommt die ethische Dimension ins Spiel: Was soll der Mensch tun? (Wege) - Warum soll er dies tun? (Ziel)
Nichts erstaunt mehr als die Wahrnehmung, dass die Menschen zwar in untergeordneten Bereichen der Lebensführung eine klare Einsicht über Ziel und Wege dorthin haben, aber in Fragen, die das Leben als ganzes betreffen, weitestgehend einsichtslos sind.
Sokrates geht davon aus, dass jede(r) das Gute (agathón) will. Den Zustand, den man erreichen kann ist der der Glückseligkeit (eudaimonìa). Wenn man man diese nicht erreicht, liegt ein Mangel an Erkenntnis über die Wege vor, die dorthin führen. Da alles Handeln nach Sokrates vom Intellekt bestimmt wird, ist die Verworrenheit des Denkens der Grund für das Bewirken von Schlechtem.
Kriterium für das Richtige ist also, inwieweit es jeweils zur Eudämonie beiträgt bzw. nützlich ist. Sokrates entwirft somit eine utilitaristische Moral. Alles - jede Institution, jede Vorschrift, jede Verhaltensweise - wird auf seine Tauglichkeit überprüft. Dies führt zwangsläufig zur Kritik an allen bisherigen Autoritäten.
Da die sokratische Philosophie den Menschen im Mittelpunkt hat, liegt es nahe, dass er auch das göttliche Wirken lediglich unter dem Aspekt des menschlichen Nutzens betrachtet. So bezeichnet er das Göttliche als zweckmäßig waltend oder als Allvernunft.
Methodisch geht Sokrates wie folgt vor: Er fragt nach einem Begriff, unterzieht diesen einer logischen Prüfung und beweist sodann dem Gesprächspartner, dass dessen Bestimmung des Begriffes viel zu eng ist. Das leitende Prinzip ist hierbei der Logos (Vernunft). Ziel ist immer eine möglichst allgemeine Verobjektivierung eines Sachverhalts.
Das ironische Fragen des Sokrates wendet sich also gegen jedes bequeme Vertrauen auf das Individuelle bzw. gegen jedes Liebäugeln mit irrationaler Subjektivität, solange noch kritisches Nachfragen und Vernunft (Logos) möglich ist. Ironie wird von Sokrates somit begriffen als Bestandteil einer logischen Methode, deren Ziel es ist, den Zweifel an der Subjektivität durch-zuhalten. Dies führt natürlich oft an einen Punkt, an dem keine abschließenden Antworten auf Fragen mehr möglich sind - also an einen Punkt, von wo aus der Weg nicht weiter führt (Aporie): "Die Grenzen der Erkenntnis, den Umfang derselben einzusehen und dadurch zu erkennen, daß ich nichts weiß, das ist sehr tiefe Philosophie."1
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1) G. W. Hegel, Geschichte der Philosophie II, hrg. v. H. Glockner, Stuttgart 31952, 117